Sonntag, 2. Oktober 2011

Die Inflation der Werte

oder der Wert der Schulden

Ach was waren das noch für Zeiten, als man für „Wertschöpfung“ und Mehrwert“ noch so richtig arbeiten musste, als man noch darüber nachdachte und engagiert darüber diskutierte, wie Werte eigentlich entstehen. Ich will hier gar nicht auf so etwas exotisches wie moralische oder ideelle Werte abheben, nein, ich trauere ein wenig den guten alten ökonomischen Werten nach.

Wieso, werden sie sich, lieber Leser, fragen, fordert der Gastkommentator in einer Welt, in der nur noch die Ökonomie zu zählen scheint ausgerechnet den ökonomischen und nicht den moralischen Werten nach? Ganz einfach: das, was einmal ökonomisch als Wert galt, ist aus unserer Welt längst völlig verschwunden.
Das hatte bereits mit der Einführung der sogenannten Mehrwertsteuer begonnen, bei der angenommen wurde, dass jeder Warenumsatz, ja selbst das Anbringen eines Preisschilds an einer Ware aus sich heraus einen Wert generiert, der  vom Staat abgeschöpft  werden kann, um den Banken wenigstens einen Teil der Zinseszinsen seiner durch eben diese Zinseszinsen verursachten Verschuldung in den Rachen zu werfen. Die Schlussfolgerung: Je öfter ein und dieselbe Ware über Großhandel, Zwischenhandel, Einzelhandel umgeschlagen wird, desto mehr ist sie wert. Dass das Prinzip nicht funktioniert, hatte man im 19. Jahrhundert schon einmal begriffen, als die kleinstaatlichen Zollgrenzen abgeschafft wurden. Damals waren sich die Ökonomen aber auch weitgehend einig, dass nur auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse abgestimmte Tätigkeiten und Produkte werthaltig sind und über Angebot und Nachfrage Preise generieren, die sich über den Tausch in einem Geldäquivalent ausdrücken lassen.

Das systemrelevante schwarze Loch

Und heute? Rotzfrech erklärt die Finanzwirtschaft, dass das Geld inzwischen einen eigenen Wert entwickelt habe – einfach so. Und die Politik und die Wissenschaft werden nicht müde, dies mit verschwurbelten Argumenten auch noch zu untermauern. Geld sei zwar nicht mehr an die materielle Produktion gebunden und könne auch über einen eigenen, immateriellen Markt vermehrt werden, garantiere aber trotzdem Eigentumsansprüche an materielle Güter und eben Werte mit deren Entstehung es nie zu tun hatte. Geld vermehrt sich heute über Zinsen, deren Höhe sich nach dem vermeintlichen Risiko einer beliebigen, auch virtuellen Unternehmung richtet und nicht mehr nach einem Anteil an der realistisch zu erwartenden Rendite der Realwirtschaft. Und über das Instrument des Zinseszinses saugt die sogenannte Finanzwirtschaft ohne jeden Bezug zur Realwirtschaft sämtliche materiellen Werte der Gesellschaft wie ein schwarzes Loch in sich auf. Und was sich bis vor kurzem noch niemand vorstellen konnte (oder wollte): inzwischen verschlingt die „Finanzwirtschaft“ ganze Staaten. Mit Griechenland hat es angefangen, ganz Europa wird folgen.

Der neue Liberalismus: Wertfreiheit statt Freiheit

Nichts, aber auch gar nichts hat das alles mit ökonomischen Werten zu tun, die Ökonomie ist letztendlich wertfrei geworden. Preise, Löhne, Kosten, Zinsen, Schulden, lediglich Größen ohne jede realwirtschaftliche Grundlagen in einem virtuellen Finanzspiel mit automatisierten Wetten, Gewinnspielen, Phantasiewelten, die alle nur ein Ziel haben . . .  nein, sie haben kein Ziel mehr, sie haben nicht einmal einen Sinn, sie sind einfach nur Selbstzweck ohne Realitätsbezug aber mit ungeheurer Wirkung auf die Realität, in erster Linie aber auf die Politik geworden.
Diese Wertlosigkeit unserer realen menschlichen Gesellschaft vor dem Hintergrund des fiktiven pseudowertschöpfenden Finanzmarktes drückt sich längst in Begriffen aus, die heute als besonders schick und intelligent gelten. Da ist die Rede von „Wertschöpfungsketten“, an denen man sich beispielsweise als „Wissensarbeiter“ entlangbewegen kann, oder gar von Wertschöpfungsketten von Finanzinstituten, die ja nichts anderes sind, als Wertabschöpfungsketten. Da beinhalten Onlineartikel einen angeblichen Mehrwert für den Leser, wobei der oft genug froh wäre, wenn der Artikel wenigstens handwerklich und inhaltlich überhaupt einen Wert hätte. Dann wäre der schicke aber substanzlose „Mehrwert“ des Artikels ohnehin völlig entbehrlich.

Warum spielen wir eigentlich nicht alle mit?


Insofern versichere ich, dass auch dieser Kommentar keinerlei Mehrwert für den Leser hat und nicht Bestandteil meiner unternehmerischen Wertschöpfungskette ist, sondern lediglich ein Beitrag, der zum Nachdenken anregen soll. Zum Nachdenken beispielsweise darüber, was eigentlich passiert, wenn dereinst die ganze Welt im schwarzen Loch der Finanzwirtschaft verschwunden ist und niemand mehr für die virtuellen Schulden aufkommen kann. Oder was wird wohl geschehen, wenn den Kreditgebern im Rahmen einer ordentlichen Insolvenz lediglich die Kredittilgung und der Anteil an der realen Wertschöpfung (also Rendite) zugestanden wird, an deren Entstehung sie mit ihren Investitionen auch direkt beteiligt waren. Es wäre interessant, einmal auszurechnen, wieviel Geld die Finanzwirtschaft ihren Schuldnern und Schuldnerstaaten inzwischen eigentlich schulden würde. Wie wäre es denn einmal mit Wetten darauf, es gibt doch genug virtuelles Spielgeld in unserem Weltcasino, das unsere geistesriesigen Spitzenpolitiker für systemrelevant halten. Vielleicht haben die damit sogar Recht. Die Frage allerdings drängt sich auf, ob dieses Schmarotzersystem selbst gesellschaftlich überhaupt relevant ist.

Mit mehrwertigen Grüßen

Ihr

Wolfgang Schwerdt

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