Diskussion um den Krill des Sozialstaates
Dass ausgerechnet Hartz IV oder besser ALG II oder noch besser die Agenda 2010 die Ergebnisse der intellektuellen Revolution, so deutlich zum Vorschein bringt, ist sicherlich kein Zufall. Ach, Sie haben noch gar nichts von der intellektuellen Revolution gehört? Keine Sorge, auch das ist kein Zufall, sondern ebenfalls ein Ergebnis dieses extrem schnellen geistigen Verfalls der gesellschaftlichen Eliten.
Es ist die vom hessischen Landesvater ausgelöste Diskussion um die Zwangsarbeit für ALG II- Empfänger - mit der sich der rührige Ministerpräsident offensichtlich für die Spitzenposition in einem neu zu schaffenden Propagandaministerium empfehlen möchte - die die Tragweite der intellektuellen Revolution in diesem Lande zum Vorschein bringt.
Da fordert der Berufspopulist Koch mit der Arbeitspflicht für Hartz IV- Empfänger doch tatsächlich etwas, dass von Anfang an bereits im Sozialgesetzbuch II sehr stringent verankert war und dokumentiert dabei zunächst einmal nur, dass er schlechterdings nicht weiß, worüber er redet. Mit der gleichen intellektuellen Qualität könnte man beispielsweise zur Lösung unserer Verkehrsprobleme doch einmal die Einführung des Rades vorschlagen.
Harz IV, Grundlage journalistischer Unterhaltung
Das erschreckende sind dabei nicht einmal die populistischen Tiefflüge des hessischen Ministerpräsidenten, sondern die Medienreaktion. Als Journalist müsste man diese geistige Eruption des hessischen Landesvaters entweder ignorieren, oder die Öffentlichkeit über die reale Gesetzeslage aufklären und damit automatisch den mentalen Zustand des Spitzenpolitikers dokumentieren. Nichts davon geschieht. Als könnten einige Vertreter der Journalistenelite heutzutage weder recherchieren, noch lesen oder denken, werden gigantische Wortschlachten in Form von Fernseh- und Radiodiskussionen initiiert, in deren Rahmen die -ich mag sie gar nicht KollegInnen nennen- bestenfalls moderieren, nicht jedoch informieren. Wie könnten sie auch, wenn ihre Arbeit erkennbar meist lediglich darin besteht, die Informationen der Lobbyisten-Pressestellen medienwirksam zu präsentieren und einander gegenüber zu stellen. Und so kommt es, dass nicht nur die privaten Medien zwar die interessengebundenen Meinungen und Forderungen von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaft, aber eben nicht die zu Grunde liegenden Fakten verbreiten. Dazu müsste man nämlich unabhängig recherchieren und das setzt eine gewisse journalistische Kompetenz voraus.
Sachlage ist einfach und klar
Dabei ist die Sachlage unglaublich einfach und im Gesetz, ja selbst in den Informationsbroschüren des Arbeitsamtes (ich verwende hier noch den zutreffenden alten Namen) jederzeit nachzulesen:
- ALG II dient ausschließlich der Daseinsvorsorge und nicht der gesellschaftlichen (und damit auch nicht der politischen (!)) Teilhabe.
- Der ALG II- Empfänger ist von Anfang an grundsätzlich verpflichtet, jede zumutbare Arbeit anzunehmen. Dabei spielen weder die Qualifikation des Hilfebedürftigen, noch die Höhe der Entlohnung (es sei denn sie ist sittenwidrig) eine Rolle. Zumutbar ist jede Arbeit, die der Delinquent (der Begriff ist bewußt im Sinne von Angeklagten gewählt) aufgrund seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten auszuführen in der Lage ist.
- Das gesamte Förderpaket ist bei ALG II auf die gesetzlich definierte Zielgruppe ausgerichtet: erwerbsfähige unqualifizierte Langzeitarbeitslose.
Das heißt für qualifizierte und hochqualifizierte ALG II- Empfänger gibt es auch nur die Förderprogramme, die in den relativ niedrig qualifizierten Beschäftigungssektor führen.
Diese Informationen und das gesamte Förderinstrumentarium sind für den recherchierenden Journalisten jederzeit im Netz verfügbar, spielen aber für das tägliche Geschäft der Medienelite ganz offensichtlich keine Rolle.
Und es gibt sie doch, die dummen Fragen
Statt also beispielsweise zu fragen, warum ALG II- Empfänger gesetzlich im Gegensatz zu allen anderen Sicherungssystemen von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden und allein dadurch die Integrationschancen in den regulären Arbeitsmarkt durch die geforderte Eigeninitiative geradezu ausgeschlossen wird, lassen sich die herausragenden Medienvertreter von Koch die Frage aufdrücken, ob Zwangsarbeit eingeführt werden soll. Da sage noch einer, es gebe keine dummen Fragen.
Natürlich könnte man unter Anderem auch fragen, warum ALG II Richtlinien und Instrumente auf die unqualifizierten Langzeitarbeitslosen fokussiert sind und damit die qualifizierten und hochqualifizierten Hartz IVler systematisch dequalifiziert und dem Niedriglohnsektor zugeführt werden.
Hartz IV- Krill, die Existenzgrundlage der „Eliten“
Im Grunde ist die Antwort klar. Diese Gesellschaft braucht den Hartz IV- Krill, um Beschäftigung und Wohlstand zu generieren. Diese ALG II Empfänger speisen zwangsweise einen profitablen Milliardenmarkt. Das beginnt mit den sogenannten Qualifizierungsmaßnahmen und Bewerbungstrainings, zu denen oft auch der qualifizierteste Hilfebedürftige (unter Androhung von Leistungsentzug!) verdonnert wird, um die Kassen der „Bildungsinstitute“ zu füllen. Da gibt es eine gewaltige Bürokratie, deren Existenz vom gesellschaftlichen Krill abhängig ist. Da gibt es den eigentlich nicht wettbewerbsfähigen Billiglohnsektor, einen Milliardenmarkt, der durch den ständigen Nachschub an „Zwangsverpflichteten“ aufrecht erhalten wird. Und da gibt es vieles andere mehr, was einem auch nur durchschnittlich qualifizierten Journalisten bei lediglich oberflächlicher Recherche eigentlich kaum entgehen dürfte.
Hartz IV, ein Thema wie Schweinegrippe oder Winter im Winter
Appropos Krill. Das sind die massenhaft in den Meeren vorkommenden Kleinstlebewesen, die am untersten Ende der biologischen Nahrungskette stehen und ohne die das Leben im Meer nicht existieren könnte.
Ökonomisch- gesellschaftlicher Krill, wie es die ALG II- Empfänger sind, bilden inzwischen ebenfalls die Existenzgrundlage unserer gesellschaftlichen "Eliten". Steinmeier hatte es so schön deutlich formuliert: „Ohne die Agenda 2010 hätten wir die Finanzkrise nicht bewältigen können“.
Im Gegensatz zur Natur gibt es in einer Gesellschaft zum Krill aber durchaus politische Alternativen. Würden sich die „Eliten“ tatsächlich einmal mit den Agenda 2010- Realitäten auseinandersetzen, ließe sich Vieles sinnvoll ändern. Aber mit Krill lebt es sich gut für die „Eliten“, selbst die Medienelite verdient sich mit der Vermarktung von Krill- und anderen unterhaltsamen Themen, wie beispielsweise Schweinegrippe oder den in dieser Jahreszeit so überraschend auftretenden Winter eine goldene Nase. Und ob die "Eliten" nach der intellektuellen Revolution des letzten Jahrzehnts mental noch in der Lage sind, Realitäten zu erfassen und ernsthafte Lösungen zu entwickeln, mag ebenso bezweifelt werden, wie die Existenz von wirklichen Eliten.
Mit elitären Grüßen
Ihr
Wolfgang Schwerdt