Freitag, 1. Oktober 2010

Vom Sozialstaat zum Sozialschwachmaten

Eine Gesellschaft steht Kopf

Die Diskussion um die Höhe der Hartz IV-Sätze scheint bereits wieder vorbei. Die seit vielen Jahren von der Politik ins Felde geführte sprachliche Manipulation hat inzwischen volle Wirkung gezeigt. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung ist sich einig: die sozial schwachen - weil nicht arbeitenden Hartz VI- Empfänger -haben nicht mehr verdient. Vor allem auch deshalb, weil viele derer, die arbeiten, auch nicht mehr verdienen beziehungsweise erhalten.

Und tatsächlich ist es für eine Gesellschaft völlig inakzeptabel, wenn Menschen, die hart arbeiten, sozial Schwache alimentieren. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob die sozial Schwachen selbst arbeiten oder nicht. Sozial Schwache sollten grundsätzlich keine Transferleistungen erhalten, sei es in Form von Hartz IV oder in Form von Diäten oder Boni. Wer sich gesellschaftlicher Verantwortung, praktizierter gesellschaftlicher Solidarität entzieht, bedroht ganz konkret die Existenz einer Gesellschaft. Wer sich die von der arbeitenden Bevölkerung aufgebrachten Steuergelder in selbstsüchtiger und gewissenloser Manier aneignet, ist sozial Schwach und steht schlichtweg außerhalb der Gesellschaft. Jene sozial Schwachen dürfen weder die Alimentierung durch die Steuerzahler - zu denen übrigens alle Bürger, von den Reichsten bis zu den Ärmsten in unserem Lande gehören - noch die Legitimation durch das Wahlvolk beanspruchen.

Politische Einfalt in der gesellschaftlichen Vielfalt

Aber bekommen die Hartz IV-Empfänger nicht deshalb Arbeitslosengeld II, weil sie - wie immer behauptet wird - sozial schwach sind?
Mitnichten: Hartz IV-Empfänger erhalten nicht deshalb Leistungen, weil sie sozial schwach, also asozial sind, sondern zunächst einmal, weil sie arm sind. Weil sie unabhängig davon, ob sie arbeiten oder nicht, so wenig Geld haben, dass sie in unserer Gesellschaft nicht ohne solidarische Unterstützung existieren können. Die Gründe hierfür sind sehr unterschiedlich. Das reicht von unverschuldeten Schicksalsschlägen über mangelnde Bildung, Bildungschancen, Bildungsbereitschaft oder Bildungsfähigkeit, Dumpinglöhnen, bis hin zu strukturellen Veränderungen, die zu bewältigen Einzelne objektiv überfordert sind. Nicht zuletzt gibt es auch jene Menschen, die aufgrund mentaler Dispositionen schlichtweg asozial sind und sich Transferleistungen eben nicht nur in Form von Hartz IV aneignen. Das bedeutet übrigens nicht, dass diese Menschen dumm oder faul sind, sie sind einfach nur asozial und leben auf Kosten der Gesellschaft.

Hartz IV: Erziehung statt Hilfe

Betrachtet man die öffentliche Diskussion genau, so konzentriert sich die gesamte Argumentation und übrigens auch das Gesetz und seine Ausgestaltung auf Hartz IV-Sozialschmarotzer. Milliarden werden in das System gepumpt, um mit kleinbürgerlich-protestantisch- moralinsäuerlicher Verbissenheit jene in die Gesellschaft zurückzuverpflichten, die diesbezüglich den größten Widerstand leisten. Klar, dass vor diesem Hintergrund für jene Hartz IV-Empfänger, die nicht diesem Sozialschmarotzerkonzept entsprechen, kaum noch geeignete Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen, um trotz aller Bereitschaft, trotz aller Qualifikation, trotz aller persönlicher Fähigkeiten zur Eigeninitiative und zur Leistung, wieder in Arbeit und Gesellschaft zurückzukehren. Denn eines ist klar: Hartz IV-Leistungen schließen bewußt gesellschaftliche und politische Teilhabe und Mobilität, also die Voraussetzung für die eigeninitiative und qualifizierte Reintegration aus. Die sogenannte Förderung schließt ebenfalls echte Qualifizierungsmaßnahmen aus und ist überwiegend auf sogenannte Mobilisierung arbeitsunfähiger oder -unwilliger ausgerichtet.

Die sozial schwache Politik

Im Grunde ist es völlig egal, wie hoch die so furchtbar gerne diskutierten Anteile der einzelnen Gruppen der Hartz IV-Empfänger sind. Das Problem besteht eben darin, dass, wie es unsere Bundesphysikerin so naturwissenschaftlich-technokratisch treffend ausgedrückt hat, mit den Hartz IV-Sätzen eine angemessene Sachentscheidung gefällt worden ist. Dem kann man nur zustimmen, weil es gleichzeitig bedeutet, dass die Entscheidungen, die unabhängig von der Leistungshöhe eigentlich anstehen, immer noch nicht in Angriff genommen worden sind: die Entwicklung differenzierter menschen- und betroffenengerechter Förderinstrumente. Denn es geht eben nicht um eine statistisch- technische Sachentscheidung, sondern um Gesellschaftskonzepte. Vielleicht sollten da einige der Politiker und Diskutanten, die sich selbstgerecht als Leitungsträger empfinden hier mal einen Bildungsgutschein bei der Arbeitsministerin einlösen und sich von kompetenter Seite erklären lassen, was eine menschliche Gesellschaft eigentlich ausmacht.
Appropos Leistungsträger. Was außer hohes Einkommen (woher auch immer) verbirgt sich denn hinter diesem wohlfeilen Begriff?

Mit leistungsgerechten Grüßen

Ihr

Wolfgang Schwerdt

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